Feedback von Pixtxa zur AW23 – Autismus als Stärke

Ich denke, eine große Stärke von Autist*innen sind die Spezialinteressen. Die ermöglichen es, sich in ein noch so kompliziert wirkendes Thema schier beliebig tief einzuarbeiten, ohne dabei wirklich die Motivation zu verlieren. Ich kenne mich inzwischen in einigen technischen Bereichen sehr gut aus und habe von anderen Bereichen zumindest eine grobe Ahnung, worum es geht. Stures Auswendig lernen müssen von Dingen, die mich nicht interessieren und die ich für unwichtig erachte, fallen mir enorm schwer. Ich verknüpfe Wissen miteinander und habe beim mich einarbeiten in neue Projekte oft Probleme mit Kollegen, da ich plötzlich gerne sofort kleine, für sie scheinbar unwichtige Details geklärt haben will, die ihres Erachtens noch total irrelevant sind für den Einstieg. Habe mal irgendwo erfahren, dass Autisten Probleme wohl anders angehen. NTs wollen grob das Ziel wissen und fangen mit kleinen Schritten in die Richtung an, der Autist hingegen will das Ziel genau kennen und den besten/einfachsten Weg finden, um das Problem zu lösen, bevor mit der eigentlichen Arbeit begonnen wird.

Ein häufiges Problem sind daher auch Aufgabenstellungen. Teils sind sie zu schwammig formuliert, teils sind Details anders festgelegt, wie ich sie für richtig erachte. Ich will gerne ein marktreifes Produkt abliefern, wenn der Chef eigentlich nur mal ein Muster will, um zu testen, ob das Thema überhaupt interessant wäre. Ich will viele Funktionen bieten, damit der Kunde das Produkt auch noch in 99 % der möglichen Edge-Cases einsetzen kann, aber für fast alle Kunden wäre diese Fülle an Einstellungen überfordernd und sie würden nicht erkennen, dass sie das Produkt auch in ihrem Edge-Case einsetzen können, wenn sie es passend konfigurieren würden. Oftmals verstricke ich mich in Edge-Cases oder übersehe implizierte Anweisungen. Auf dem #CCCamp2019 bekam ich bei einem Gespräch im AutiOfen den Tipp, dass man dann das Ziel selbst festlegen und mit dem Chef abstimmen sollte. Seitdem schaue ich bei neuen Projekten, dass ich nicht mehr nach unbekannten Dingen Frage, sondern meine eigene Ansicht vom Ziel aufschreibe und versuche eine detaillierte Liste zu machen, die beinhaltet, was meiner Auffassung nach Teil des Ziels ist, was zwar möglich wäre aber nicht Teil des Ziels ist und wo ich mir unsicher bin und eine Entscheidung vom Chef möchte, wobei da auch wieder mit dran steht, was das dann hinter sich her ziehen würde was dann mit drin wäre bzw. raus fliegt. Die Liste bekommt dann der Chef und passt sie an, indem er noch ein paar Teile des Ziels entfernt oder von mir als nicht gewünscht verstandenes dann doch noch toll findet. Somit habe ich ein klar definiertes Ziel, für das ich auch schon ein grobes Konzept im Kopf habe, welches dann nur noch umgesetzt werden muss. Die NTs arbeiten halt gleich Schritt für Schritt los, definieren irgendwas als Protokoll, was sinnvoll klingt, implementieren das und passen es dann nach und nach an, um die plötzlich aufgetauchten Edge-Cases noch irgendwie mit abgedeckt zu bekommen. Bei mir sind die bereits möglichst von Anfang an mit drin und werden gleich berücksichtigt, sodass ich den geringsten Aufwand habe, da ich dann nicht viel ändern muss. Je umfangreicher das Projekt ist, desto eher lohnt sich mein Weg.

Die autistische Wesensart ist eben eine Andere und Autist*innen haben Probleme und Stärken, die NTs nicht haben. Meine Vorgesetzten scheinen das erkannt zu haben und bieten mir viele Freiheiten, die bewirken, dass ich sehr produktiv arbeiten kann und Spaß daran habe. Homeoffice mit flexibler Arbeitszeit auf Vertrauensbasis finde ich da sehr praktisch. Falls plötzlich wegen irgend etwas ein Meltdown/Shutdown kommt oder es mir sonst wie mal nicht gut geht, muss ich das nicht maskieren, sondern kann einfach ein paar Schritte laufen und schon ist da mein Bett und ich kann eine Auszeit nehmen. Wenn es sein muss, auch den ganzen Tag lang. Ebenso kann ich mir auch einfach eine Auszeit nehmen, wenn ich auf einen privat interessanten Gedanken stoße und das nun recherchieren will, damit es nicht bis Feierabend im Hinterkopf hängt und mich ablenkt. Die so entstehenden Fehlzeiten kann ich dann einfach zu anderer Zeit wieder nachholen bzw. schon vorgearbeitet haben und bin selbst dafür verantwortlich, die gesetzlichen Bedingungen zu Maximalarbeitszeiten, Mindestpausen, Sonn- und Feiertagen und so einzuhalten und bekomme natürlich keinen Nachtschicht-Zuschlag. Aktuell arbeite ich aber lieber nachts, weil es da kälter, dunkler und leiser ist als tagsüber. Während Mittags durch das offene Fenster nur Licht und Lärm von Bussen/Autos/Mopeds/Kindern/Steinflex/Passanten/… kommt, erhalte ich nachts durch das Fenster hauptsächlich Kälte und ab und an fährt mal ein Auto vorbei. Und da ich zum Arbeiten ein Notebook habe, kann ich bei schönem Wetter auch auf der Terrasse oder bei Arztterminen vom Wartezimmer aus arbeiten und so. Im Büro bin ich aktuell nur für einen Tag alle 1…2 Wochen und das ist auch ganz gut so, gibt eben doch manches vor Ort zu erledigen und da ich dann eh schon aus dem Haus bin, drücke ich mich dann auch nicht um den Besuch im Hackerspace auf dem Rückweg.

Ich habe also viele Freiheiten, von denen sowohl mein Arbeitgeber als auch ich profitieren, da ich so arbeiten kann, dass ich am produktivsten bin und nicht fürs im Büro hocken und Zeit totschlagen bezahlt werde, weil ich mich nicht konzentrieren kann oder so, wie es bei anderen der Fall ist. Manche müssen sich leider regelmäßig Krankschreiben lassen, um die Auszeiten zu bekommen, die sie benötigen, um die restliche Zeit überhaupt arbeiten zu können, müssen sich dafür aber noch zum Arzt quälen (Anrufen, hin gehen, Wartezimmer, …), was zusätzliche Löffel raubt. Sie müssen sich also eigentlich schon Krankschreiben lassen, so lange sie noch die Löffel dafür haben und sie Gefahr besteht, dass die nicht zum Arbeiten reichen. Machen viele aber ungern. Und wenn es ihnen dann Abends/Nachts wieder gut geht und sie gerne arbeiten würden, dürfen sie nicht. Die sind dann gezwunden, die Möglichkeit des Krankschreibens “auszunutzen” und kommen sich wie Betrüger vor, da sie ja eigentlich arbeiten können und wollen. Ich arbeite nun schon seit zwei Jahren ohne eine einzige Krankschreibung gehabt zu haben und finde, mein Arbeitsentgelt sollte eine Belohnung für meine gute Arbeit sein, mit der ich selbst zufrieden bin und die ich gerne mache. Ich will es nicht Geld für’s Nichtstun bekommen, weil ich das sonst unfair gegenüber anderen fände (BGE sollte es m. E. trotzdem geben) und es sollte auch kein “Schmerzensgeld” für eine Tätigkeit sein, die mir keinen Spaß macht, mit der ich mich trotzdem herumschlagen muss und mit deren Ergebnis ich unzufrieden bin. Arbeit und Spezialinteresse überschneiden sich bei mir zum Glück sehr stark und mein Chef sorgt dafür, dass ich meine Stärken voll entfalten kann und profiert davon.

Unter den Schwächen von Autismus leide ich m. E. kaum, da das Umfeld passt (bis auf, dass die Eltern das nicht immer verstehen oder sie nerven). Gibt halt ein paar Tage, an denen es mir schlecht geht und ich nichts schaffe, was mich wiederum unzufrieden macht, das liegt aber vermutlich an einem autistischen Burnout oder so. Mit der Erkenntnis, Autist zu sein, hat sich eben vieles geändert, ich habe vieles hinterfragt, viel altes ausgegraben und aufgearbeitet, vieles neu verstanden, mein Weltbild überarbeitet, …. Das war vermutlich eben doch etwas zu schnell und zu viel auf einmal, evtl. hätte ich fürs Ausgraben und Aufarbeiten von Altem auch besser eine Psychotherapie nehmen sollen, anstatt das alleine zu tun. Geht mir aber inzwischen auch schon wieder besser als vor paar Wochen…Monaten, wo ich unproduktiv mit NC-Kopfhörer auf und incl. Kopf unter der Gewichtsdecke war und mir selbst auf den Keks ging, dass ich zu nichts sinnvollem Energie habe. Aber gut, ich habe ja nun auch neue Medis bekommen.

Und da ich nun wohl genug Text knapp am Thema vorbei geschrieben habe, sich der Himmel schon wieder blau färbt, die Busse wieder fahren (immerhin noch ohne der lauten Klimaanlage an) und es hier gegen 12…13 Uhr Mittagessen geben wird, ist es nun Zeit, ins Bett zu gehen, damit ich die 6-2-1-Regel auch heute wieder brav einhalten kann.

Ich kann in Extremsituationen auch recht gelassen bleiben, bin ich immer. Panisch rumschreien hilft ja nichts. Als ich mit 14 Jahren mal vor 3,5k Leuten auf einer Bühne stehen durfte, hatte ich kein Lampenfieber oder so. Wir hatten den Ablauf ja backstage besprochen und kurz durchgeprobt.

Entfernungen schätze ich m. E. eher schlecht, ich messe lieber. Kopfrechnen kann ich auch nicht, ich überlasse das lieber dem Taschenrechner. Mit Farben kenne ich mich aber inzwischen doch recht gut aus, hatte durch LED-Spielereien genug mit RGB-Farbmischung zu tun und seit ich mal feststellte, dass die Grundfarben quasi doch die Gleichen sind, nur invertiert, machte das plötzlich viel mehr Sinn:
RGBW: #FF0000, #00FF00, #0000FF, #FFFFFF
CMYK: #00FFFF, #FF00FF, #FFFF00, #000000
RGBW ist additive Farbmischung und beginnt bei einer dunklen Leinwand, auf die farbiges Licht geworfen wird, Schwarz+Rot+Grün=Gelb.
CMYK ist subtraktive Farbmischung und beginnt bei der beleuchteten Leinwand, auf die farbige Filter aufgetragen werden, Weiß-Rot-Blau=Grün.

Meine Kunstlehrer konnten das nur nicht erklären, Magenta nannten sie Rot, Cyan nannten sie Blau und behaupteten dann, Rot, Gelb und Blau seien die Grundfarben, aus denen sich alles Mischen ließe. Und ich fragte mich ewig, warum Rot und Blau in beiden Systemen die Grundfarben seien, Grün und Gelb aber nicht und sich im jeweiligen System, wo sie keine Grundfarbe sind, mischen lassen. Dabei war das nur eine Lüge und die Grundfarben im Wasserfarbkasten sind eigentlich “Minus-Rot”, “Minus-Grün” und “Minus-Blau”, besser bekannt als Cyan, Magenta und Gelb, welche jeweils zwei Farbkanäle durch lassen, während sie den Dritten abschwächen/blockieren. Würden das mehr Menschen verstehen, könnten sie wohl auch Farben besser einschätzen. Aber da sie es nicht tun, ist es nun bei mir eine Stärke. ¯_(ツ)_/¯

PS: Vom eigentlichen Thema abweichen hin zu Infodumping ist wohl auch eine meiner “Stärken”.